Sie geht, in aller Kürze, so: Im Jahr 2011 beginnt Winkler, YouTube-Videos unter dem Namen Drachenlord zu veröffentlichen. Recht schnell beginnen Menschen in Foren, sich über ihn lustig zu machen. Daraus entsteht schließlich eine Community, die sich auch selbst Hater nennen (eigentlich "Häider", also das Wort fränkisch ausgesprochen) und deren Hobby es ist, Witze über Rainer Winkler im Internet zu machen, ihn zu verspotten – und in vielen Fällen auch körperlich zu attackieren, sein Haus zu beschädigen oder die Feuerwehr dorthin zu rufen. Das Ganze nennen sie Drachengame. 2018 erlebte es einen Höhepunkt, als mehrere Hundert Hater im damaligen Heimatort Winklers, einem 40-Seelen-Dorf in Franken, eine Art Party feierten und das Haus Winklers, von ihnen die "Drachenschanze" genannt, stürmen wollten. Noch immer verfolgen sie ihn.
Bis heute tauchen immer wieder dieselben Fragen zu diesem Fall auf: Wie konnte es dazu kommen? Kann man das stoppen? Und immer wieder: Warum tun diese Leute, was sie tun?
Diesen Fragen geht der am Donnerstag erscheinende Podcast
Cui Bono: Wer hat Angst vorm Drachenlord? nach. Er erzählt die Geschichte des YouTubers, der von Tausenden Menschen im Internet und in seinem Heimatort gemobbt wird. Auch er kann sie nicht restlos beantworten. Das wäre vielleicht auch zu viel verlangt. Aber er nimmt sich Zeit, die Anfänge zu erklären und die Entwicklung bis heute nachzuvollziehen.
Die fünfteilige Serie erzählt Winklers Geschichte mit vielen Details, Interviews, Videoausschnitten. Man durchlebt als Hörer, wie Winkler zunächst praktisch ohne Publikum Videos über Metal-Musik und Wurstbrote veröffentlicht und wie sich im Imageboard
lachschon.de Menschen beginnen, über ihn lustig zu machen, zum Beispiel weil er übergewichtig ist und sich in seinem breiten Fränkisch verhaspelt. Wie er sich darüber aufregt und eine Spirale in Gang gesetzt wird. Wie er zum Meme wird und wie er schließlich den Fehler macht, seine Adresse in einem Video zu nennen. Wie dadurch das Drachengame beginnt und etliche Hater ihn regelmäßig in Altschauerberg heimsuchen und belästigen. Es ist eine Geschichte, die
durchaus schon erzählt wurde. Aber dieser Podcast ist die vielleicht umfassendste journalistische Rekonstruktion des Drachengames.
Zu nah dran?
Der Podcast ist handwerklich hervorragend gemacht. Der Moderator Khesrau Behroz erzählt den Podcast ernst, ohne getragen zu wirken. Manchmal auch humorvoll, ohne peinlich zu werden. Er schafft es, einer gewissen Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen, mit der man mitunter auf das blicken muss, was Winkler und seine Hater tun. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil der Podcast in vielen Teilen eine riesige Collage ist. Kunstvoll drapieren die Macherinnen und Macher der Produktionsfirmen Studio Bummens und Undone eine Vielzahl von Soundschnipseln und Ausschnitten aus Winklers Videos und Fernsehsendungen zusammen mit Musik zu einem atmosphärischen Erlebnis.
Dadurch schleicht sich beim Hören gelegentlich der Gedanke ein, ob das alles nicht vielleicht ein bisschen zu unterhaltsam sei, zu ausführlich, zu nah dran. Die Produktion macht sich nie über Winkler lustig, die Beschreibungen bleiben sachlich, vieles wird auch einfach nur gezeigt. Und doch ist eben gerade das ausführliche Ausbreiten und Kommentieren von allem, was Winkler tut, auch eines der Markenzeichen der Hater.
Die Abgründe der Hater
Spätestens, wenn es im Podcast um die Eskapaden der Hater geht, wird klar, warum es wichtig ist, die Geschichte um Rainer Winkler zu erzählen. Ausschnitte aus Videos zeigen die Grausamkeit, die Menschenverachtung, die Häme, die ihm entgegenschlägt.
Auch eines der wohl abgründigsten Videos, die diese Szene je hervorgebracht hat, ist im Podcast zu hören. Zwei Studenten stehen vor Winklers Haus, offenbar betrunken. Sie piesacken und provozieren ihn, beschimpfen seinen verstorbenen Vater wüst. Winkler schlägt ihnen schließlich jeweils einmal auf die Schulter, dafür (und für einige andere Delikte) ist er im Oktober 2021 verurteilt worden. Die jungen Männer hatten vor Gericht dann auch noch die Chuzpe, zu behaupten, sie wären aus "Zivilcourage" zu Winkler gefahren, weil sie "mit seinen Äußerungen nicht einverstanden" seien.
"Big Brother" als Vorlage für das Drachengame
Nach einem Berufungsprozess (in dem ein betrunkener Hater als Zeuge aussagte, auch eine gute Passage im Podcast) ist Winkler derzeit auf Bewährung, sein Haus ist verkauft und teilweise abgerissen, er ist wohl wohnungslos und reist durch Deutschland. Verfolgt von Hatern, die ihn weiter drangsalieren und Hotels, in denen er übernachtet, mit negativen Google-Bewertungen bombardieren oder die Feuerwehr dorthin rufen. Auch das alles erzählt der Podcast.
Aber der Anspruch der Macherinnen und Macher ist, mehr zu liefern, als eine gut erzählte, ausführliche Zusammenfassung des Drachengames. Wie in der ersten Staffel von
Cui Bono ist das Versprechen, dass es etwas gibt, das über den Einzelfall hinausweist. "Denn am Ende geht es natürlich um viel mehr als nur um Rainer Winkler", sagt Behroz zu Beginn der ersten Folge. "Es geht also, mal wieder, auch um uns."
In der ersten Staffel ging es um Ken Jebsen, der sich vom Kult-Radiomoderator zum einflussreichen Verschwörungserzähler entwickelt hat. Dabei war recht klar, was das Große Ganze ist, für das Jebsen exemplarisch stand: wie sich Menschen in Verschwörungserzählungen verlieren. Bei der Geschichte um den Drachenlord ist das anders. Was ist es, was das Drachengame mit uns allen zu tun hat? Wofür steht dieser Fall?
Relativ lange wird eine Antwort auf diese Frage eher nur angedeutet. Klar, es geht um Cybermobbing und um die Frage, wie die Gesellschaft umgeht mit einem Mob, der einen Einzelnen terrorisiert. Eine ausführliche Interpretation bieten die Podcastmacher dann in der dritten Folge: das Drachengame als die konsequente Weiterentwicklung von Reality-TV.
Beinahe eine ganze Folge lang erzählt der Podcast die Geschichte des Reality-TV von den Anfängen in den USA bis zum Hype um
Big Brother in Deutschland Anfang der Nullerjahre. Der Podcast widmet sich ausführlich Manu, einer Kandidatin der Show. Als eine Art Antagonistin der Publikumslieblinge Zlatko und Jürgen wurde sie zum Ziel von Spott in Massenmedien und Hass in der Fangemeinde. "So ist das mit den Menschen, die wir nicht mehr als Menschen sehen: Sie sind so einfach zu hassen", sagt Behroz. Die "Manu raus! Manu raus!"-Sprechchöre der vor dem
Big-Brother-Haus versammelten Menschen wecken Assoziation zu den Belagerungen der Drachenlord-Hater.
Es bleibt allerdings weitgehend bei der Assoziation. Der Podcast buchstabiert den Vergleich zwischen Drachengame und Reality-TV-Formaten nicht im Detail aus. Das funktioniert als erzählerisches Mittel gut, denn so klopft man als Hörer selbst die ganze Zeit die verschiedenen Formate auf Gemeinsamkeiten mit dem Drachengame ab.
Es lässt aber auch viel Raum für offene Fragen. Ist es wirklich das Gleiche, einen Vertrag mit einem Fernsehsender wie RTL II für eine sehr wahrscheinlich öffentlichkeitswirksame Produktion zu unterschreiben, wie einen Kanal bei
YouTube zu starten, der ja auch immer unbeachtet bleiben kann? Ist Reality-TV, das
guilty pleasure vieler Menschen, genauso schlimm wie das Drachengame? Oder ist das Drachengame doch nicht so schlimm, weil es irgendwie ist wie Reality-TV?
Am Ende der Folge kommt eine Produzentin zu Wort, die betont, wie gut die Darstellerinnen und Darsteller der
Scripted-Reality-Serie
Berlin Tag und Nacht es geschafft hätten, ihr Privatleben von ihrer Rolle zu trennen. Vermutlich soll damit nicht angedeutet werden, dass auch Winkler eine Rolle spielt. Aber wer unbedingt will, könnte es vielleicht so verstehen.