Wir haben es genau genommen mit zwei Problemen zu tun, die sich mittlerweile jedoch überlagern. Das ältere davon entstand mit der gesellschaftlichen Polarisierung seit 2015 und den sich daran anschließenden identitätspolitischen Debatten.
Bis zu diesem Zeitpunkt war es den meisten nicht so wichtig, ob alle Nationalspieler die Hymne mitsingen. Es wurde weitgehend akzeptiert, dass gerade Spieler mit Migrationshintergrund bei der Hymne andächtig lauschten.
Es war kein großes Problem, weil bzgl. der Hymne in Deutschland nach 1945 ohnehin sehr lange Zeit Zurückhaltung herrschte. Wer es nicht glaubt, kleine Erinnerung:
Es gab beim DFB bis dahin keine explizite Verpflichtung zum Mitsingen der Hymne. Als aufgrund der gesellschaftlichen Polarisierung Spielern wie Özil oder Boateng dann jedoch unterstellt wurde, sie seien nicht wirklich mit ganzem Herzen bei der NM dabei, haben sich Führung und DFB nicht schützend vor sie gestellt, sondern plötzlich so getan, als hätte es eigentlich immer schon eine unausgesprochene Verpflichtung zum Mitsingen gegeben. Und schließlich hat der Arschpuler-Jogi dann scho au ein Machtwort gesprochen und alle mussten singen.
Bei Özil und Gündoğan 2018 ein völlig paralleler Eskalationsverlauf: NM-Spielern mit Migrationshintergrund waren Fotos mit Politikern aus ihrer zweiten Heimat nicht untersagt. Özil hatte sich fast über ein Jahrzehnt immer wieder mit Papa Recep ablichten lassen. 2018 wird es dann aber zum Problem, auch weil viele der schnell erregten Gutmenschen Erdoğan nun für Hitler 2.0 halten. Nachdem sie ihm über ein Jahrzehnt rhetorisch hinten reingekrochen sind und sich für einen EU-Beitritt der Türkei eingesetzt haben (Claudia Roth: »Ich mache gute Börek!«).
Wieder haben sich DFB und NM nicht schützend vor die Spieler gestellt und die Verantwortung dafür übernommen, dass man nicht rechtzeitig Verhaltensrichtlinien aufgestellt hat. Stattdessen sollten sich Mesut und Ilkay für etwas entschuldigen, das überhaupt keine Regel des DFB verletzt hatte. Sondern eben nur die oftmals unergründlichen und wechselhaften Gefühle des Mainstream-Almans.
Dies ist das ältere Problem, das dann in Özils Abschied und einer langen Reihe z.T. auch sehr grundlegender Vorwürfe gegen NM und DFB mündete. Die Grundaussage war m.E. plausibel und nachvollziehbar: Viele Jahre war ich der integrierte Vorzeige-Migrant, mit dem sich der DFB geschmückt hat. Plötzlich bin ich der Buhmann der Nation. Dabei habe ich nichts anderes getan als all die Jahre zuvor. Ihr instrumentalisiert uns Spieler mit Migrationshintergrund, so wie Ihr es gerade braucht.
Diese offene Wunde ist niemals aufgearbeitet worden. Grindel und Bierhoff haben sämtliche Schuld bei Özil abgeladen und die Hände in Unschuld gewaschen.
Das zweite große Problem, das nun noch hinzukommt, ist die politische Funktionalisierung der NM. Die begann zwar schon zuvor, hat aber seitdem SPD-Mann (und penic-Double) Bernd Neuendorf DFB-Präsident ist, völlig neue Dimensionen angenommen.
Das bringt nun noch mal eine ganz neue Dynamik in die Mannschaft. Neben sportlichen Kriterien ist nun auch ein möglichst konformes Auftreten gefragt. Und so kommt es dann dazu, dass gerade zwei Spieler, deren Position eher wackelt wie Neuer und Goretzka, unbedingt die Binde bei der WM im Katar durchdrücken wollten.
Die Spieler mit Migrationshintergrund, und v.a. die Muslime, sind durch diese neue Dynamik automatisch die Verlierer. Wenn sie nicht voll mitziehen bzw. sogar kritisch sind, schaden sie sich womöglich sportlich. Ziehen sie mit und lächeln im rosa Tutu, halten sie ihre migrantischen Landsleute für Verräter – und viele Deutsche wieder für Heuchler.
Ergebnis für die Stimmung im Team: Der von Özil oder Boateng bereits vor vielen Jahren beklagte Eindruck der Instrumentalisierung von Migranten in der NM wird noch einmal verstärkt. Und beim DFB und der NM duckt man sich weiterhin einfach weg und tut so, als ob alle Spieler geschlossen hinter solchen Kampganen wie der One-Love-Binde oder dem rosa Trikot stehen würden.